Tom Starks virtueller Schreibtisch

... und was man alles so darauf finden kann.

Anderwelt Nebel - Eine Kurzgeschichte über drei Generationen

ca. 6 Kindle-Seiten

Anderwelt Nebel

von Tom Stark

 

Es ist ein milder Frühlingsabend und die ersten Sterne erscheinen am Firmament.

Großvater Patrick sitzt mit Little Paddy seinem sechsjährigen Enkel auf der alten Ulmenbank, die einen neuen Anstrich vertragen könnte.

Die nächtlichen Bodennebel erheben sich und verwandeln die Gegend in eine schemenhafte Märchenlandschaft.

»Kannst Du das Elfentor sehen da hinten, Paddy?« Der Großvater deutet mit dem Finger einer faltigen Hand zu den beiden Eschen, die sich im Laufe ihres langen Lebens an den Spitzen zueinander geneigt hatten und schließlich zusammengewachsen waren. Jeder in der Gegend kannte das Tor, von dem es hieß, dass man zu bestimmten Zeiten nach Tír na nÓg, nach Brí Léithin oder an andere Orte der Anderwelt gelangen konnte. Und jeden Abend gelangte ein wenig dieser Anderwelt mit dem Nebel durchs Tor heraus in diese Welt.

»Klar, Opa.« Das ist nur zur Hälfte wahr, denn Little Paddy weiß zwar ganz genau wo es ist, aber im Moment kann er es im Nebel nur erahnen.

»Dann siehst du auch den Mantikor, der herauskommt und sich herausfordernd brüllend davor aufstellt?«

Der Junge mit den roten Haaren kneift die Augen zusammen.

»Was ist denn ein Mantikor?«

»Ein Mantikor, Paddy, ist ein Monster aus der Anderwelt, mit dem Körper eines Tigers, dem Kopf eines bösen Trolls und dem Schwanz eines Skorpions, und der Stachel hängt dicht über seinem Kopf, allzeit bereit zuzustechen und sein tödliches Gift zu verspritzen!«

Der Junge kuschelte sich schutzsuchend an seinen Großvater, der ihn zärtlich in den Arm nimmt.

»Ja, glaube schon. Da steht er und brüllt und zeigt sein Zähne. Grrr, grrr!«

»Ah, gut. Dann siehst du auch über ihm den Greifen, der ihm kreischend antwortet und ihn mit seinen Klauen angreift?«

»Ein Greif?«

»Genau. Ein Greif hat einen Löwenkörper, nur dass sein Kopf der eines Riesenadlers ist, seine Pfoten Adlerklauen sind und er gewaltige Adlerflügel hat. Greifen und Mantikore sind Gegner und ihr Kampf ist so alt wie die Sterne.«

Paddy reißt die Augen auf und im Nebel erkennt er wie die beiden Feinde aufeinander losgehen.

»Und wer gewinnt?«, fragt er seinen Großvater aufgeregt. Der schmunzelt.

»Das ist der Kampf zwischen Gut und Böse, der edle Greif gegen den hinterhältigen Mantikor. Mal ist der eine etwas überlegen, mal der andere. Wir Menschen sind es, die durch unsere Taten den Ausschlag geben, wer am Ende gewinnt. Verstehst du das?«

Klein Paddy versteht es nicht ganz, aber er hat das sichere Gefühl zu wissen, dass er es noch verstehen wird, also nickt er.

»Hab Dich lieb, Kleiner.« Der Großvater wuschelt den dichten Rotschopf seines Enkels.

»Hab Dich auch lieb, Opa.«

 

 

Es ist lauer Sommerabend und die ersten Sterne funkeln bereits am Firmament.

Patrick, der rothaarige junge Mann sitzt mit seiner kleinen Schwester Patricia auf der alten Ulmenbank, die wirklich einen neuen Anstrich vertragen könnte.

Die nächtlichen Bodennebel erheben sich und verwandeln die Gegend in eine Traumwelt.

»Paddy, kannst Du Greif und Mantikor sehen?«

Patrick lächelt seine fünfjährige Schwester an und zupft sie liebevoll an ihren fuchsroten Zopf. Er hat schon eine Weile nicht mehr nach Greif und Mantikor gesehen, gedacht, er sei langsam zu alt dafür. Aber als er hinsieht kann er die beiden genauso so klar wie früher sehen, wie sie ihren ewigen Kampf austragen.

»Und ob, Patty. Ich finde heute schlägt sich der Greif ganz besonders tapfer!«

Patty kneift die Augen zusammen und deutet in den Nebel.

»Kannst Du auch die beiden Einhörner sehen, die dort grasen und miteinander schmusen, und wie sie unter den Sternen herumtollen und vor Freude mit den Hinterhufen austreten?«

Patrick schaut in die leuchtenden Augen seiner kleinen Schwester und braucht nicht erst in den Nebel zu blicken um wahrheitsgemäß antworten zu können: »Und ob. Die beiden haben sich ja richtig lieb. Fast so lieb, wie ich Dich habe.«

Er nimmt sie in den Arm und sie schmiegt sich an ihn.

»Hab' Dich auch lieb, Paddy.«

 

 

Es ist ein warmer Herbstabend und die ersten Sterne zeigen sich am Firmament.

Zwei rothaarige Männer, unverkennbar Vater und Sohn, sitzen auf der alten Ulmenbank, die dringend einen neuen Anstrich braucht.

Die nächtlichen Bodennebel erheben sich und bilden die Leinwand für ein fantastisches Kino.

Beide Männer halten eine Flasche Bier in den Händen und stoßen miteinander an.

»Auf Pops.«, sagt der Jüngere.

»Auf Dad.«, erwidert der Ältere.

Sie trinken beide und schauen dann in schweigender Eintracht in den Nebel.

»Hat dir Pops auch immer versucht weißzumachen, dass dort im Nebel Wesen aus der Anderwelt herumlaufen?« Der Jüngere kneift die Augen zu, während er versucht etwas auszumachen.

Sein Vater lacht. »Oh ja! Dort hinten kämpfen Greif und Mantikor und da hinten, am Bach, grasen die beiden Einhörner von Tante Patty.«

Sean betrachtet seinen Vater prüfend. Er weiß, dass dieser den frühen Tod seiner kleinen Schwester nur schwer verkraftet hat, aber irgendwie erscheint er ihm heute Abend sehr aufgeräumt. Dann schaut er wieder in die Richtung, in der er das Elfentor vermutet.

»Halt' mich meinetwegen für albern, Dad, aber ich sehe immer wie ein gewaltiger weißer Nebeldrache dösend hinterm Elfentor liegt und nur ab und zu sein silbernes Auge zu einem Schlitz öffnet um dem Kampf zuzuschauen oder den Einhörnern, wie sie herum galoppieren.«

Sein Vater kneift nun ebenfalls die Augen zusammen.

»Tatsächlich, da ist er. Wie habe ich den nur die ganzen Jahre übersehen können?«

Sean gibt seinem Vater einen sanften Rippenstoß.

»Ich werd das hier vermissen, Dad.«

»Du studierst nur, Junge, du fliegst nicht zum Mond. Wir werden noch oft hier sitzen, wirst schon sehen.«

»Ach, Dad. Mal was anderes: Wolltest Du nicht schon ewig die Bank streichen?«

»Auch Du, mein Sohn? Elly liegt mir ebenfalls schon seit Jahren damit in den Haaren. Weißt Du was? Wenn Du in den Semesterferien zu Besuch kommst, machen wir es zusammen.«

»Klingt gut, Dad.«

Beide trinken wieder und schweigen eine Weile.

»Dad?«

»Junge?

»Hab' Euch lieb, das weißt Du, oder? Du und Ma, Ihr seid nicht irgendwie sauer, weil ich nach Dublin gehe?«

»Red' keinen Blödsinn, Sean. Deine Ma und ich freuen uns schon darauf mal Zeit für uns haben. Aber tu' mir den Gefallen und besuch' uns oft. Elly zwingt mich sonst Dich dauernd anzurufen, Du weißt, wie sie ist.«

Beide Männer seufzen wissend und stoßen wieder an.

 

Es ist ein klarer Winterabend und die Sterne wachen schon am Firmament.

Großvater Patrick sitzt mit Pat seinem zehnjährigen Enkel auf der alten Ulmenbank, die mit sichtbarer Liebe und Hingabe gepflegt wird. Eine grobe Wolldecke hält beide warm.

Die nächtlichen Bodennebel erheben sich und transformieren die Gegend in einen Teil der sagenhaften Anderwelt.

»Hey, da sind Greif und Mantikor, Harry und Sally - die Einhörner haben inzwischen Namen bekommen - und Ruat, der Drache.«

Patrick lächelt liebevoll. Es ist das müde Lächeln eines Mannes, dessen Zeit fast um ist und der keine Angst davor hat. »Ja, ich sehe sie, Pat.«

»Siehst Du auch diese Frau da, die da am Tor steht und mir zuwinkt?«

Patrick schaut in die Richtung, in die sein Enkel zeigt. Er weiß, dass er die Augen nicht zusammenkneifen muss, weil er ohnehin nicht mehr so weit sieht. Zu seinem Erstaunen kann er die Frau aber ganz genau erkennen. Sie ist hochgewachsen, gertenschlank und bewegt sich mit der Eleganz einer Elfe. Auch sie schaut zu ihm und als sich ihre Blicke treffen, verklärt ein Lächeln ihr Gesicht. Mit gemessenen Schritten kommt sie auf die Bank zu.

»Elaine?«, haucht Patrick andächtig.

»Opa?«

»Das ist Elly, Deine Großmutter!«

»Mh 'kay.«, erwidert Pat zögernd. Bisher hat er die Nebelwesen immer für ein lustiges Spiel gehalten und er wollte einfach auch etwas dazu erfinden.

Also schaut er wieder hin und tatsächlich hat er eine Ahnung davon, was sein Großvater zu sehen glaubt. Ausläufer des Nebels sind nun bis zur Bank vorgedrungen, etwas, was Pat bisher noch nie erlebt hat.

»Sie holt mich, Sean, sie holt mich ab.«

»Hey, Opa, ich bin's Pat, dein Enkel. Sean ... also Dad ist doch mit Mum im Haus.«

Der Großvater lächelt seinen Enkel an. Das Lächeln ist liebevoll aber abwesend.

Patrick bemerkt nicht, wie er in sich zusammensackt und auch nicht wie sein Enkel ihn am Arm schüttelt. »Opa? Opa!«

Mit großen Augen sieht der junge Pat, wie sich zwei Nebelgestalten vor der Bank umarmen. Es sind die Frau und jemand, der irgendwie seinem Opa ähnlich sieht, nur viel jünger.

»Mach's gut, Pat. Hab' Dich lieb!«, hört er die Stimme seines Großvaters.

»Hab Dich auch lieb, Opa ...« Er sieht die beiden Hand in Hand zum Elfentor gehen.

Dann läuft er so schnell er kann zum Haus. »Mum! Daaaad!«

Sean, der alarmiert heraus eilt, findet seinen Vater zusammengesunken auf der alten Ulmenbank, mit einem friedvollen Lächeln, den Blick ewig den Sternen zugewandt.

 

07.12.2017

Tom Stark - zum Lesen geeignet